Im Westen erst mal nur Konzepte
Das Image von Charlottenburg-Wilmersdorf ist stark von Ku’damm und Tauentzien geprägt, der alten City-West. Für Innovation steht der Bezirk heute nicht mehr. Doch das war mal anders. Kann es wieder so werden?
Plötzlich sehen Radfahrende in der Kantstraße anders aus: Sie tragen Büro-Outfits, haben Kinderanhänger an ihren Rädern oder fahren Hollandräder. Bis zum Mai, als diese Charlottenburger Magistrale einen Pop Up-Radweg erhielt, fuhren hier nur Unerschrockene Rad. Wer eben konnte, wich in die Nebenstraßen aus. Solche Umwegfahrten machen das Radfahren auf längeren Strecken natürlich unattraktiv.
Dabei ist Charlottenburg-Wilmersdorf (C-W) bei weitem keine Radfahrenden-Diaspora. Schon in der Nachkriegszeit wurden im Bezirk Radwege angelegt – allerdings oft so schmal, dass sie heute gerne »Handtuch-Radwege« genannt werden. Sie waren Ausdruck der autogerechten Stadtplanung. Doch Anfang der 80er Jahre, nach Ölkrise und Smogalarmen, sind die negativen Folgen der Automotorisierung in West- Berlin unübersehbar. In Charlottenburg wird ein ganzes Viertel, der Klausener-Kiez, verkehrsberuhigt. Anfang der 90er Jahre entsteht einer der ersten Berliner Radschutzstreifen am Südwestkorso in Wilmersdorf. Es vergehen weitere zwanzig Jahre, dann folgen im Bezirk diese kostengünstigen Lösungen Schlag auf Schlag: Richard-Wagner Straße (ab 2002), Schloß- und Schlüterstraße (2008), Westfälische, Uhland-, Franklin-, Joachim-Friedrich-Straße (bis 2016). 2010 wird die Wilmersdorfer Prinzregentenstraße als eine der ersten Straßen in Berlin zur Fahrradstraße.
An die heißen Eisen wie Ku’damm, Kantstraße oder den Straßenzug Kaiser-Friedrich-/Lewisham-/Brandenburgische Straße aber traut sich keine Politikerin, kein Politiker heran. Es braucht einen Volksentscheid, ein Mobilitätsgesetz, einen Dieselskandal, es braucht einen tödlichen Unfall und massiven Druck aus der Zivilgesellschaft, wie vom ADFC, bis auf der Kantstraße endlich ein Radweg eingerichtet wird.
Dabei steigt der Anteil der Wege, die mit dem Rad zurückgelegt werden seit Jahren an. Der Anteil der mit dem Auto zurückgelegten Wege hingegen sinkt, in C-W mit 9 Prozent sogar deutlich stärker als der Berliner Durchschnitt (siehe Grafik). Auf der Straße merkte man schon vor der Corona-Pandemie die steigende Zahl an Radfahrenden. Beim Autoverkehr sieht das anders aus. In absoluten Zahlen hat auch er zugenommen. Wie kann das sein?
Obwohl prozentual weniger Menschen das Auto nutzen, sind absolut mehr Autos unterwegs. Das hat zwei Ursachen: zum einen die Bevölkerungszunahme. C-W ist seit 2010 um 23.000 Einwohnerinnen gewachsen (ein Plus von 7,2 Prozent) und liegt auch damit über dem Berliner Durchschnitt. Zum anderen haben mehr Menschen Arbeit als zu der Zeit, als Berlin arm aber sexy war. In der Konsequenz gibt es mehr Arbeitswege – die auch mit dem Auto zurückgelegt werden. Denn auch das ist C-W: 19 km Autobahn.
Eines der zahlreichen Projekte der ADFC Stadtteilgruppe City-West ist es, die A100 zwischen Spandauer Damm und Siemensdamm mit einem Radweg auszustatten. »Die Rudolf-Wissell-Brücke wird in den kommenden Jahren ohnehin komplett neu gebaut«, sagt ihr Sprecher Henning Voget, »da wäre es ein Unding, den Radverkehr nicht mitzudenken«. Er hat einen Plan gemacht, wie das gehen könnte. Ein Weg an der Unterseite der Brücke würde die Radfahrenden über die Lehrter Bahn, die Spree und den Westhafenkanal führen. Auch am Umbau des Autobahndreiecks Funkturm ist die Gruppe dran. Eine wahre Krampfader des Autoverkehrs, unglaubliche Verkehrsflächen, Verschlingungen, aufgeständerte Betonrampen, dazwischen ein Radweg vom Rathenauplatz aus kommend. Durch eine absurde Tunnelrampe unter dem ICC führt er die Radfahrenden zum Messedamm, wo architektonischer Brutalismus auf Verkehrsvisionen der 70er Jahre trifft. Auf der Großkreuzung von Messedamm und Kantstraße werden Passant:innen unter die Erde geführt. Durch das unterirdische Kachelmuseum muss jede:r, der:die zu Fuß unterwegs ist. Menschen mit Handicap haben das Nachsehen. Sie und Messebesucher:innen, die die Radwege als solche nicht erkennen, nutzen die Radfurten, um den Fahrdamm zu queren, doch die Grünphase ist für Menschen zu Fuß oder im Rollstuhl zu kurz. Sie kommen – mit Glück – bis zur Straßenmitte. Diese Kreuzung ist auch so ein heißes Eisen, an das sich weder Bezirk noch Senat herantrauen.
Ein Grund dafür ist der Personalmangel. Insbesondere im Bezirksamt. Jahrelang konnten die ausgeschriebenen Planerstellen nicht besetzt werden. Potentielle Kandidat:innen zog es gleich zur Senatsverwaltung oder zu InfraVelo, die beide besser bezahlen. »Und das, obwohl die Arbeit bei uns oft sogar verantwortungsvoller ist«, klagt Stadtrat Oliver Schruoffeneger von den Grünen. Er ist im Bezirksamt für das Tiefbauamt zuständig. Seine Mitarbeiter:innen setzt er dort ein, wo gerade ein Leitungsbetrieb wie z.B. die Berliner Wasserbetriebe eine Leitung verlegen. »Es wäre ja verrückt, wenn wir da nicht planend eingreifen und die ohnehin nötige Maßnahme zur Verbesserung des Radwegs nutzen«, argumentiert er. »Wir fokussieren unsere Planungskapazitäten dann auf diese Projekte. Und wenn dann noch Kapazitäten frei sind, kann man eigene Prioritäten setzen. Da sind dann aber meistens keine Kapazitäten mehr frei.« Der Bezirk wird somit faktisch von außen durch Einzelprojekte getrieben. Das Ergebnis bei den Fahrradwegen: ein Flickenteppich von erneuerten guten Abschnitten und solchen, die im Ursprungszustand verbleiben und zudem oft baufällig sind.
Selbst Stadtrat Schruoffeneger räumt im ADFC-Interview ein, dass in seiner Amtszeit wenig Sichtbares für den Radverkehr umgesetzt wurde. Sein Augenmerk liegt auf dem personellen Aufbau des Tiefbauamts und auf konzeptioneller Arbeit. Er will die Quartiere von dem quälenden Lieferverkehr befreien, der überall in zweiter Reihe parkt und Radfahrende gefährdet. In C-W sollen künftig an fünf City-Hubs Pakete vom Lieferwagen auf Lastenräder umgeschlagen werden. »Wir haben jetzt die Konzepte in der Tasche«, sagt Schruoffeneger, und ergänzt: »Damit wird es in der nächsten Legislatur einfacher, Dinge umzusetzen.« Das ist dringend zu hoffen.