Werden Radverkehr und Beteiligung ab jetzt kleingeschrieben?
Die neue Leitung der Senatsverwaltung für Mobilität, Verkehr, Klima und Umwelt stoppte quasi als erste Amtshandlung den Radwegeausbau. Wie der ADFC Berlin erfolgreich dagegen mobilisierte und was als nächstes zu befürchten steht. Von Solveig Selzer.
Mit einem Paukenschlag nahmen die neue Senatorin für Mobilität, Verkehr, Klima und Umwelt, Dr. Manja Schreiner, und ihre Staatssekretärin, Dr. Claudia Elif Stutz, ihre Arbeit auf – das heißt, sie stoppten die bisherige Arbeit der Verkehrsverwaltung. Sie wiesen die Bezirke an, alle bisherigen Planungen für Radwege auszusetzen, wenn auch nur eine Fahrspur für Kraftfahrzeuge oder ein einziger Parkplatz wegfiele. Ein Radweg in der Siegfriedstraße in Lichtenberg, der Grunewaldstraße in Schöneberg, auf der Opernroute in Charlottenburg-Wilmersdorf und viele mehr – alle finanziellen Mittel für Projekte, die schon in Sack und Tüten waren, wurden blockiert. Damit rückte die Aussicht auf ein sicheres Vorankommen mit dem Rad für viele Menschen, die schon lange darauf gewartet hatten, in die Ferne; die Enttäuschung und Wut waren entsprechend groß.
Radwegestopp? Nicht mit uns!
Binnen eines Tages gaben Changing Cities und wir dem Protest gegen den Radwegestopp einen Raum durch eine Spontankundgebung vor der Senatsverwaltung. Dem schlossen sich mehrere hundert Menschen an – mit prompter Reaktion: Die Senatorin korrigierte und relativierte die vorherige Anweisung. Sie ließ mitteilen, es gehe unter anderem um Radwege, für die nicht nur ein einzelner Parkplatz wegfiele, sondern mehr als zehn Parkplätze auf 500 Metern. Drei Wochen später hieß es von der Staatssekretärin als Antwort auf eine schriftliche Anfrage, dieses Kriterium spiele keine Rolle. Nach welchen Kriterien die Senatsverwaltung ihre Blockade nun tatsächlich ausrichtete, liegt für die Öffentlichkeit und die Zivilgesellschaft im Dunkeln.
In jedem Fall blieb eine große Zahl wichtiger Radwegeprojekte vorerst weiterhin blockiert: die Schönhauser Allee im Prenzlauer Berg, die Hauptstraße in Schöneberg oder die Ollenhauerstraße in Reinickendorf, um nur einige zu nennen. Auf all diesen gefährlichen Straßen organisierten unsere ADFC-Stadtteilgruppen laute und kraftvolle Demonstrationen. Bei Hitze und bei Regen, morgens vor der Arbeit und am Feierabend schallte es der Senatorin entgegen: Nicht mit uns! Den Höhepunkt des Protests bildete unsere Großdemonstration am 2. Juli in einem Bündnis mit über 23 Organisationen. 13.000 Menschen wollten die Blockadehaltung der Senatorin und ihrer Staatssekretärin nicht hinnehmen – ein deutliches Zeichen, das auch ankam: Mittlerweile sind viele der blockierten Projekte wie die Scharnweberstraße in Friedrichshain und die Hermannstraße in Neukölln wieder freigegeben worden, teilweise mit Änderungen. Allerdings ist bei einigen anderen noch immer unklar, wie es weitergeht.
Partizipation der Stadtgesellschaft? Ade!
Nun haben Bauprojekte im öffentlichen Straßenland lange Vorlaufzeiten – bei manchen der betroffenen Projekte sind es zehn Jahre. Im Verlauf dieser Jahre wurden teilweise in umfangreichen Beteiligungsverfahren viele unterschiedliche Belange berücksichtigt, wie etwa Lieferzonen für den Wirtschaftsverkehr oder das gute Vorankommen von Tram und Bus. Mit ihrer Radwegeblockade traten die Senatorin und ihre Staatssekretärin nicht nur diese Beteiligungsverfahren mit den Füßen. Sie ignorierten auch, dass sie nach § 37 Absatz 7 des Mobilitätsgesetzes „vor wesentlichen Entscheidungen und Planungen mit Auswirkungen auf die gesamtstädtische Ebene“ das Gremium einbeziehen sollen, mit dem die Zivilgesellschaft beteiligt wird, der sogenannte FahrRat. Und was ist ein stadtweiter Radwegestopp, wenn nicht eine wesentliche Entscheidung? Dieses Vorgehen zeugt von sehr wenig Sinn für das „gute Miteinander“, das sich die Regierung auf die Fahne geschrieben hat. Es ist das Gegenteil des selbsterklärten Ziels, Berlin „zusammenführen“ zu wollen. Es ist eine Missachtung der demokratischen Prozesse und der Zivilgesellschaft.
In einem demokratischen und partizipativen Prozess ist 2018 das Mobilitätsgesetz entstanden. Dem war eine Unterschriftensammlung des Volksentscheids Fahrrad vorausgegangen. Längst nicht alle Maßnahmen, die der Volksentscheid Fahrrad vorgesehen hatte, stehen heute im Mobilitätsgesetz. Umgekehrt wurden einige zusätzliche Maßnahmen aufgenommen, die für einen guten Ausgleich sorgen sollen. Es ist also ein klassischer Kompromiss, entwickelt in einem Verfahren, in dem viele unterschiedliche Teile der Stadtgesellschaft beteiligt waren. Die schwarz-rote Koalition hat wiederholt Andeutungen gemacht, diesen Kompromiss infrage zu stellen und Änderungen am Mobilitätsgesetz vornehmen zu wollen. Das fügt sich in das Bild ein, das sie mit dem Radwegestopp und der Umgehung der demokratischen Verfahren hinterlässt: das Bild einer Regierung, die Partizipation und Miteinander klein schreibt.
710 Kilometer bis 2026
Eine andere Ankündigung der Regierung klingt im ersten Moment positiv: Senatorin Schreiner und ihre Kolleg:innen verkünden immer wieder, mehr Radwege als die Vorgängerregierung bauen zu wollen. Das Problem? Ein vages „Mehr“ reicht nicht. Aus dem Mobilitätsgesetz ging 2021 der Radverkehrsplan hervor. Darin ist beschrieben, wie das Radnetz für Berlin im gesetzlich vereinbarten Zeitraum bis 2030 verwirklicht werden soll: nämlich mit einer stetigen Steigerung der zu bauenden Kilometer pro Jahr, siehe Tabelle. Das heißt, während 2022 40 Kilometer Radweg zu bauen waren, müssen in der verbleibenden Legislatur von 2023 bis 2026 weitere 710 Kilometer des Radnetzes fertiggestellt werden (s. radzeit 3/2022). Ein bloßes „Mehr“ an Radwegen reicht also nicht, um den Radverkehrsplan einzuhalten. Wir erwarten, dass bis 2026 die 710 Kilometer Radweg in den vorgeschriebenen Standards auf Berlins Straßen angekommen sind. Radwege, mit denen alle die Möglichkeit bekommen, sicher zur Schule fahren zu können, zur Ärztin oder wohin auch immer sie unterwegs sind. Das Mobilitätsgesetz gilt!
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