Lichtenberg: Kein Paradies fürs Rad!
Lichtenberg bleibt Radverkehrs-Schlusslicht. Doch die Aktiven des ADFC Berlin kämpfen weiter und können mit der neuen Verkehrsstadträtin Filiz Keküllüoğlu (Grüne) nun auf Unterstützung aus dem Rathaus setzen.
Hans-Joachim Legeler stoppt sein Fahrrad. Vor ihm endet plötzlich der Radweg und wird auf die Fahrbahn geführt. Legeler schaut links über seine Schulter. Autos, Lkws, Transporter brausen an ihm vorbei. Keine Chance auf eine Lücke. Jetzt zeigt er nach vorne auf die Gehrenseebrücke: „Schmale Fahrspur, kein Radweg, die Autos überholen einen sehr dicht, fahren dabei mit Tempo 50 oder mehr. Es braucht echt Mut, über die Brücke zu fahren“, ruft er gegen den Verkehrslärm an.
Hans-Joachim Legeler, Sprecher der ADFC Stadtteilgruppe Lichtenberg, hat mit seinem Reiserad schon die halbe Welt durchquert, von Europa über Asien bis zu den Bergen von Kirgistan. Hier in Lichtenberg kämpft er seit über 20 Jahren dafür, dass die Radinfrastruktur endlich ausgebaut wird. Sitzt im FahrRat, geht in die Verkehrsausschüsse, zeigt sein Gesicht. Mit Erfolg? Legeler zuckt mit seinen Achseln. Hier mal ein 900 Meter langer neuer Radweg, da mal eine Sanierung oder eine abgesenkte Bordsteinkante, dort ein für Fahrradfahrer:innen freigegebener Weg durchs Grüne. Dieses Achselzucken heißt: der Bezirk Lichtenberg ist kein Paradies für Fahrradfahrer:innen. Das bestätigt auch die neue Verkehrsstadträtin Filiz Keküllüoğlu (Grüne) im Interview mit der radzeit. „Das Radverkehrsnetz ist ein Stückwerk. Die Radwege sind teilweise zu schmal, sie sind kaputt, verlaufen auf dem Bürgersteig oder als schmale Schutzstreifen auf der Fahrbahn.“
Lichtenberg bisher unterentwickelt
Das hat Auswirkungen: Das Fahrrad wird als Verkehrsmittel mit 13,4 Prozent in Lichtenberg nur unterdurchschnittlich benutzt, wie eine Untersuchung 2015 herausfand. Berlinweit sind es immerhin 17 Prozent, diese Zahl stammt aus dem Jahr 2018. Auch an der einzigen Fahrradzählstelle in Lichtenberg, am Paul-und-Paula-Uferweg, sind die Fahrradzahlen rückläufig: 2018 waren es insgesamt 33.985 Radfahrende, 2022 nur noch 24.137. Trotz Mobilitätsgesetz, Radverkehrsplan und Geldern für die Bezirke, bleibt der Radverkehr in Lichtenberg bisher unterentwickelt.
Doch es gibt Hoffnung: „Wir vom ADFC sind endlich nicht mehr die Einzigen, die im Bezirk aktiv sind“, sagt Legeler. Es gebe immer mehr Leute und Initiativen, die sich für bessere Radwege, für Kiezblocks, Schulstraßen und Verkehrsberuhigung einsetzen. Und in manchen innenstadtnahen Kiezen sehe man die Veränderung richtig: „In Karlshorst, im Weitlingkiez, im Kaskelkiez, da sind gefühlt nur noch Radfahrende unterwegs, mit Kindern, mit Lastenrädern.“
Brücken-Demos und kein Blitzer
Zurück zur Gehrenseebrücke. Anwohnende engagieren sich hier seit mehr als zehn Jahren für Tempo 30, da die abfallende Brücke zum schnellen Fahren einlädt, wodurch es laut und gefährlich für alle anderen wird. Ohne Erfolg. Selbst ein stationärer Blitzer wird von der Polizei abgelehnt. Begründung: Es habe zu wenig geschwindigkeitsbedingte Unfälle gegeben. 2017, 2018 und 2019 organisierten der ADFC Lichtenberg und das Netzwerk Fahrradfreundliches Lichtenberg eine sogenannte „Brücken“-Demo. Ab 2017 machten Lichtenberger Fahrradaktive den Vorschlag, eine parallele Fahrradbrücke zu bauen. Selbst der damalige CDU-Verkehrsstadtrat fand die Idee gut, stellte eine kleine Anfrage im Abgeordnetenhaus. Seitdem hat man nichts mehr davon gehört.
Viel wird angekündigt, passieren tut wenig – das scheint symptomatisch für Lichtenberg zu sein. Zwischen 2018 und 2022 hat die Bezirksverordnetenversammlung 29 Beschlüsse gefällt. Da geht es um konkrete Fahrradstraßen, um geschützte Radwege und um sichere Radverkehrsanlagen. Umgesetzt wurde nichts. Lediglich acht Vorhaben seien in Arbeit, fünf liegen auf bezirklicher Seite, drei bei der infraVelo. Von elf Vorhaben hat man nie wieder etwas gehört. Das fand Frank Neumann über eine Abfrage der BVV-Drucksachendatenbank heraus. Neumann ist sowohl im ADFC als auch beim Netzwerk Fahrradfreundliches Lichtenberg aktiv. Selbst die zusätzliche Stelle eines Radverkehrsplaners, von der BVV beschlossen, wurde vom CDU-Stadtrat abgelehnt. „Sich so querzustellen, ist schon politisch motiviert“, sagt Neumann. Schaut man in den Fortschrittsbericht zum Ausbau der Radinfrastruktur für das Jahr 2022, schaffte Lichtenberg gerade einmal 1,7 Kilometer Radweg und ist damit der drittletzte Bezirk in Berlin.
Für jeden Radweg kämpfen
Jetzt entsteht eine Lücke im Kfz-Strom. Hans-Joachim Legeler tritt in die Pedale, fährt auf die Fahrbahn, nähert sich der Brücke, schon braust ein Lkw heran, gefährlich nah, zieht kurz vor knapp nach links, überholt Legerer mit schmalen 30 Zentimetern Abstand. Ein Kfz nach dem anderen überholt zu schnell und zu nah. Nach ein bis zwei Minuten erreicht Legeler das Brückenende. „Jedes Mal eine Erfahrung, auf die ich verzichten könnte.“
Doch wie geht es in Lichtenberg weiter? „All die liegen gebliebenen Projekte, all die Kilometer, die laut Radverkehrsplan in den nächsten Jahren gebaut werden müssen, liegen nun bei der neuen Verkehrsstadträtin Filiz Keküllüoğlu“, sagt Frank Neuman. Diese wiederum sagt im radzeit-Interview, dass sie um jeden Meter Radweg kämpfen möchte. Als erstes will sie die Radwege angehen, die in der Planung weit fortgeschritten sind. Dazu zählen unter anderem die vielbefahrene Siegfriedstraße, anvisierter Radwege-Baubeginn ist schon im Oktober 2023. Gleichzeitig sagt Keküllüoğlu, dass die im Radverkehrsplan für Lichtenberg festgelegten 149,7 Kilometer insgesamt bis 2030 nicht zu schaffen sind. Dazu fehle es ihr an Personal, an Mitteln, auch lägen größtenteils noch gar keine Planungen vor. Sie will ihr Bestes geben. Doch wird das reichen, um Lichtenberg endlich attraktiver und sicherer für Radfahrende zu machen? Tatsächlich erwarten die Radaktiven, dass es jetzt einen Sprung nach vorne gibt. Nach so vielen Jahren Fahrrad-Stillstand in Lichtenberg müssen jetzt mit aller Kraft Kilometer gemacht werden. Damit Lichtenberg endlich vom Schlusslicht vielleicht sogar zum Vorbild wird?
Radverkehr stärken & Mitglied werden
Unterstütze den ADFC Berlin, werde Mitglied und nutze exklusive Vorteile:
- deutschlandweite Pannenhilfe
- exklusives Mitgliedermagazin als E-Paper
- Rechtsschutz und Haftpflichtversicherung
- Beratung zu rechtlichen Fragen
- Vorteile bei vielen Kooperationspartnern
- und vieles mehr!