7. Dezember 2020 / ADFC Berlin

Kurze Auslandsreise

Wer stärker tritt, ist schneller da: Von Berlin nach Stettin und zurück. Der Oder-Neiße-Radweg ist ein Klassiker. Aber neuerdings fährt es sich auch jenseits der Grenze vorzüglich. Von Stefan Jacobs

Surfen im Internet kann Radfahrende schneller machen. Das erweist sich auf dieser Fahrt vom Berliner Umland an die Oder: 36 Grad sind angekündigt. Aber die Webseite des ersten Quartiers versprach einen Pool, und schräg gegenüber im „Kolonistencafé“ soll es köstliches Eis geben. Wer stärker tritt, ist schneller da. Der Wind schiebt wie ein Fön durch die Ausläufer der Märkischen Schweiz. Zwischen alten Feldsteindörfern geht es meist auf asphaltierten Radwegen und ruhigen Straßen an Feldrainen und Hecken entlang, hin und wieder auch durch Wald. Bei Möglin werden die ersten Alleebaumäpfel reif. Dann fällt das Terrain ab und voraus tut sich das völlig platte Oderbruch auf – jene Provinz, die der Alte Fritz um 1750 nach eigenem Bekunden „im Frieden erobert“ hat, indem er das zuvor oft überschwemmte Binnendelta eindeichen ließ.

Neulietzegöricke ist das älteste und inzwischen reizvollste Kolonistendorf im Bruch. Der Pool hält, was die Fotos versprachen, das Café ebenfalls. Die weiteren Attraktionen – restaurierte Fachwerkhäuser, Kirche, Kneipe – befinden sich im Umkreis von drei Gehminuten.

Nach einer ruhigen Nacht in der vor wenigen Jahren aus Ruinen auferstandenen Fachwerk-Pension geht’s am Morgen durch Zollbrücke: ein Dutzend knuddelige Häuschen unterhalb des Oderdeichs, Storchennest, Eisladen, Restaurant, das berühmte „Theater am Rand“ – ein Ensemble wie aus der Puppenstube. Auf der anderen Deichseite fließt die Oder. Ab Hohensaaten, wo der Nationalpark Unteres Odertal beginnt, bekommt sie Begleitung: Westlich von ihr verläuft die Hohensaaten-Friedrichsthaler Wasserstraße als stets schiffbare Alternative. Der Radweg folgt überwiegend diesem Kanal und ist dadurch näher an den Highlights wie dem mehr als 800 Jahre alten, seit wenigen Jahren wieder begehbaren „Grützpott“ auf den Hügeln einer uralten Burg in Stolpe. Der Blick von dem Ziegelturm mit seinen meterdicken Mauern scheint fast wie aus dem Flugzeug, obwohl die Hügel keine 100 Meter hoch sind.

Im Radlercafé „Fuchs & Hase“ gibt es in einer ehemaligen Werkskantine lokale Auerochsenwurst, Eis am Stiel und Boitzenburger Bier. Genug Kalorien für den weiteren Weg, der flach und bestens asphaltiert nordwärts führt – sofern man nicht auf einen der Plattenwege abzweigt, die bis an die Oder führen und dem Tierleben näher kommen als die Hauptroute: Eisvögel, Stieglitze, Rohrweihen; Kraniche und Gänse sowieso.

Abgesehen vom Nationalpark-Zentrum in Criewen ist der Weg das Ziel und der Blick zur hügeligen polnischen Flussseite die Belohnung. Bis das Kohlekraftwerk Gryfino in Sicht kommt, das nicht in diese Landschaft passt. Die ist nicht mehr so gut geschützt wie in den 1990ern, seit die polnische Regierung den Schutzstatus des Nationalparks gelockert hat, um die Oder ausbaggern zu können.

Nach einem soliden Abendessen in der „Pommernstube“ in Gartz geht’s unter von Bibern angenagten Pappeln nach Mescherin zum Quartier. Der Ort ist der ideale Startpunkt für eine lange Runde durch den Landschaftspark südlich von Stettin und die Hauptstadt von Westpommern. Wer diesen Loop fährt, muss sich auf einige Hügel und teils stark und schnell befahrene Straßen gefasst machen. Alternativ gelangt man mit dem Zug aus Mescherins Nachbardorf Tantow in gut 20 Minuten nach Stettin.

Wer Stettin weglässt, fährt von Mescherin aus zunächst ebenfalls kilometerlang durch Schilfland bis zur Ostoder nach Gryfino (Greifenhagen) und von dort südostwärts zu dem Radweg, der erst an der Straße verläuft und ab Szczawno als neu asphaltierte, mit Nr. 3 beschilderte Bahntrassenroute fern von Verkehr und Ortschaften durch Wälder, Wiesen und Felder führt. Weit und still breitet sich die dünn besiedelte Landschaft aus. Wohl dem, der Picknick in der Tasche hat. Wer nicht, kann beispielsweise in Banie oder Trzcińsko Zdrój einkaufen. Der Stopp dort auf dem Rathausplatz lohnt schon wegen der Fotos aus der Zeit, in denen das Städtchen noch Bad Schönfließ hieß.

Zwei Lücken hat der Superweg Nr. 3 bis hierhin – beide beschildert zwar, aber nur die erste auf einem guten Waldweg, während die zweite arg holprig ist. Über Grzybno lässt sie sich auf Landstraßen umfahren.
Bald hinter dem Stadttor von Trzcińsko Zdrój kreuzt Superweg Nr. 3 die Nr. 20, die mit allerfeinstem Asphalt auf einer anderen Bahntrasse südwestwärts führt, Richtung Oder. Die Brücke nach Deutschland soll erst 2021 geöffnet werden, aber bis dorthin ist der Weg komplett. Hin und wieder passiert er ein zum Wohnhaus mit Garten umgebautes Bahnhofsgebäude. Die meiste Zeit hat man ihn ganz für sich allein und kann den Blick ungestört schweifen lassen. Die Hügel verschönern die Landschaft, ohne viel Kraft zu rauben.

Es­ lohnt sich noch einmal, die Trasse zu verlassen: für eine Übernachtung im Kloster Cedynia (Zehden). 1266 von Zisterzienserinnen gegründet, 1945 abgebrannt, seit 2005 feines Hotel mit Restaurant, in dem sich gehoben polnisch speisen lässt. Es hat sich gelohnt, den Hunger über den Tag aufzusparen.

Die Schlussetappe führt durch den bewaldeten Zehdener Landschaftspark nordwärts. Später geht sie in eine uralte Lindenallee über, der man bis zum Abzweig nach Zatoń Dolna folgt. Steil bergab geht es ins Dorf, das am Hang über der Oder hockt und sich für einen Spaziergang durchs „Tal der Liebe“ anbietet. Der Park aus dem 19. Jahrhundert wurde vor ein paar Jahren wieder hergerichtet.

Was folgt, ist der Schlussspurt auf einem reizenden Sträßchen direkt auf dem Deich bis an die Brücke, die zurück nach Deutschland führt – direkt nach Schwedt, von wo es im Stundentakt zurück ins volle, laute Berlin geht.

Etappen
Strausberg-Nord – Neulietzegöricke: 40 km
Neulietzegöricke – Mescherin: 82 km
(Option) Mescherin – Stettin – Mescherin: 92 km
Mescherin – Cedynia/Zehden: 86 km
Cedynia/Zehden – Schwedt: 34 km

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