Aus den 70ern ins Jahr 2022: Vorsichtig optimistisch

In Steglitz-Zehlendorf gibt es Potential. Doch wird es genutzt? In unserer radzeit-Reportage nehmen wir den Bezirk im Süd-Westen der Stadt under die Lupe. Von SOLVEIG SELZER

Wer in Steglitz-Zehlendorf Fahrrad fährt, fühlt sich an vielen Stellen in die 1970er Jahre versetzt. Damals waren sogenannte Hochbordradwege aus Platten der ‚State of the Art‘. Heute haben die Bäume der vielen schönen Alleen Wurzeln geschlagen und die Platten aufgebrochen und angehoben. Die Triebe der Linden verdecken die Radwege manchmal komplett. Daneben oft zwei oder drei Spuren für Autos – pro Richtung. Fahrräder mit (Kinder-)Anhänger oder andere zweispurige Fahrräder, etwa behindertengerechte, passen kaum auf die teilweise nur 70 cm schmalen Radwege. In den Worten der Bezirksbürgermeisterin Maren Schellenberg hört sich das so an: „Bei Weitem nicht ausreichend ist das Angebot an mobilitätsgesetzkonformen, ausreichend breiten Radverkehrs-anlagen, insbesondere an Hauptstraßen.“ Ingo Kraatz und Michael Dittmann von der ADFC-Stadtteilgruppe Steglitz-Zehlendorf drücken es so aus: „Viele Radwege sind zwar befahrbar, aber schön ist anders.“ Dieser Meinung sind auch viele Studierende, Dozierende und andere Angehörige der Freien Universität Berlin im Bezirk, die der Fahrradinfra-struktur auf dem Weg zur Uni in einer Befragung die Schulnote 3,6 geben, also ein Ausreichend.
Positiver ausgedrückt: Es gibt in Steglitz-Zehlendorf noch viel Potential, die öffentlichen Verkehrsflächen gerechter zu verteilen. Etwa indem man die alten Hochbordradwege dem Gehweg zuschlägt und auf einer der Auto(-park-)spuren den heutigen ‚State of the Art‘, einen baulich geschützten Radweg, anlegt. Dann haben Menschen auf dem Rad und zu Fuß beide ihre separate, breite Fläche und die vorher vorprogrammierten Konflikte um den knappen Platz werden obsolet. Auf einen Schlag erreicht man mehr Platz für Leute, die Kinderwagen schieben oder diese überholen, nebeneinander gehen und sich unterhalten wollen. Und schafft gleichzeitig einen kom­for­tablen, sicheren Radweg mit schützenden Pollern und genug Platz zum Überholen für die schnellen Radler:innen. So einen geschützten Radweg kann man auf einem Abschnitt des Dahlemer Wegs bewundern. In der Leonorenstraße ist gerade ein Mittelweg zwischen altem und neuem Stil am Entstehen: ein Hochbordradweg, der asphaltiert und deutlich breiter ist, dabei aber genug Platz für den Fußverkehr lässt. Der Plan, dass sich bei der Verkehrswende nicht nur Fuß- und Radverkehr, sondern auch Bus- und Radverkehr ergänzen, geht Unter den Eichen bisher laut ADFC-Stadtteilgruppe jedoch nicht auf: Auf der geteilten Bus- und Radspur fühlen sich viele Radfahrende durch die schweren und großen, schnell heranrauschenden Busse nicht sicher genug und nutzen sie deshalb nicht.
Urban Aykal hat viel vor. Er ist seit Dezember 2021 Stadtrat für Ordnung, Umwelt- und Naturschutz, Straßen und Grünflächen und sprudelt nur so vor Ideen und Vorhaben, wie man die Verkehrswende im Bezirk vorantreiben kann. Er verbreitet Aufbruchstimmung. Aber hier im Bezirk zeigen sich die ganz praktischen Probleme: Es fehlt an Personal und die Firmen, die die Straßenmarkierungen aufbringen sollen, sind auf Monate ausgebucht. Trotzdem lässt sich Aykal nicht entmutigen. Er sei „vorsichtig optimistisch, dass wir deutlich mehr auf die Straße setzen werden“, sagt er der radzeit (siehe radzeit-Interview auf Seite 8). Aber wieviel mehr?, fragen wir. Auf viele „Wieviel“-Fragen, z.B. nach Kilometern, antwortet er „viele“. Aber „viele“ und „mehr“ reichen nicht. Das Mobi­litäts­gesetz und der Radverkehrsplan mit allen dort festgeschrie­benen Ausbauzahlen müssen bis Ende 2026 umgesetzt sein, so wurde es von der rot-grün-roten Koalition im Abgeordneten-haus festgelegt. In den letzten vier Jahren ist auf Senatsebene so viel durchdacht und entwickelt worden: Das Radnetz wurde so konzipiert, dass es alle Bezirke und wichtige Orte wie Schulen gut und möglichst umwegfrei erschließt. Kurz: Alles wurde gut auf- und miteinander abgestimmt und hat definitiv lange genug gebraucht. Doch nun entwickelt die Zählgemeinschaft zwischen den Ampelparteien in der BVV Steglitz-Zehlendorf einen eigenen bezirklichen Radverkehrsplan.

Mit welchem Personal und Geld wollen sie in dieser Legislatur über die Pläne des Senats hinaus noch einen bezirklichen Radverkehrs­plan umsetzen? Großes Fragezeichen. Realistisch wirkt das nicht.
Andererseits leistet Aykal das, was die Verkehrswende, zumal in den Außenbezirken, auf jeden Fall braucht: sehr viel Kommunikations- und Überzeugungsarbeit an allen Ecken und Enden. Er führt Beteiligungswerkstätten und Bürger:innen­sprechstunden durch, stimmt sich in vielen Gesprächen mit der Verwaltung, seiner eigenen und den anderen Parteien ab. Sein Ziel ist ein partizipativer Prozess, der „alle mitnimmt“. Dass es nie 100 Prozent sein werden, sei ihm auch klar, sagt er, aber dass durch die Gespräche die Gemeinsamkeiten größer wer­den, hilft sicherlich. Auch Maren Schellenberg, der Bezirks­bürgermeisterin, sind Gespräche anstelle von Frontenbildung wichtig. Sie hat Recht, wenn sie sagt, es habe „in den letzten fünf Jahren ein Umdenken in der Gesellschaft gegeben, dass manches jetzt möglich macht, woran vor fünf Jahren nicht zu denken gewesen wäre.“
Ein viel zu oft zitiertes Sprichwort sagt, Politik sei die Kunst des Möglichen. Das würde Aykal bestimmt gefallen. Aber am Ende seiner Legislatur wird er sich auch daran messen lassen müssen, wie viel vom Berliner Radverkehrsplan er umgesetzt hat.

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https://berlin.adfc.de/artikel/aus-den-70ern-ins-jahr-2022-vorsichtig-optimistisch

Häufige Fragen von Alltagsfahrer*innen

  • Was macht der ADFC?

    Der Allgemeine Deutsche Fahrrad-Club e.V. (ADFC) ist mit bundesweit mehr als 200.000 Mitgliedern, die größte Interessenvertretung der Radfahrerinnen und Radfahrer in Deutschland und weltweit. Politisch engagiert sich der ADFC auf regionaler, nationaler und internationaler Ebene für die konsequente Förderung des Radverkehrs. Er berät in allen Fragen rund ums Fahrrad: Recht, Technik, Tourismus.

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  • Was bringt mir eine ADFC-Mitgliedschaft?

    Radfahren muss sicherer und komfortabler werden. Wir nehmen dafür – auch Dank Ihrer Mitgliedschaft – nicht nur Einfluß auf Bundestagsabgeordnete, sondern setzen uns auf Landes- und Kommunalebene für die Interessen von Radfahrern ein. Für Sie hat die ADFC Mitgliedskarte aber nicht nur den Vorteil, dass wir uns für einen sicheren und komfortablen Radverkehr einsetzen: Sie können egal, wo Sie mit Ihrem Fahrrad unterwegs sind, deutschlandweit auf die ADFC-Pannenhilfe zählen. Außerdem erhalten Sie mit unserem zweimonatlich erscheinenden ADFC-Magazin Information rund um alles, was Sie als Radfahrer politisch, technisch und im Alltag bewegt. Zählen können ADFC-Mitglieder außerdem auf besonders vorteilhafte Sonderkonditionen, die wir mit Mietrad- und Carsharing-Anbietern sowie Versicherern und Ökostrom-Anbietern ausgehandelt haben. Sie sind noch kein Mitglied?

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  • Was muss ich beachten, um mein Fahrrad verkehrssicher zu machen?

    Wie ein Fahrrad verkehrstauglich auszustatten ist, legt die Straßenverkehrszulassungsordnung (StVZO) fest. Vorgesehen sind darin zwei voneinander unabhängige Bremsen, die einen sicheren Halt ermöglichen. Für Aufmerksamkeit sorgen Radler*innen mit einer helltönenden Klingel, während zwei rutschfeste und festverschraubte Pedale nicht nur für den richtigen Antrieb sorgen. Je zwei nach vorn und hinten wirkende, gelbe Rückstrahler an den Pedalen stellen nämlich darüber hinaus sicher, dass Sie auch bei eintretender Dämmerung gut gesehen werden können. Ein rotes Rücklicht erhöht zusätzlich die Sichtbarkeit nach hinten und ein weißer Frontscheinwerfer trägt dazu bei, dass Radfahrende die vor sich liegende Strecke gut erkennen. Reflektoren oder wahlweise Reflektorstreifen an den Speichen sind ebenfalls vorgeschrieben. Hinzu kommen ein weißer Reflektor vorne und ein roter Großrückstrahler hinten, die laut StVZO zwingend vorgeschrieben sind.

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  • Worauf sollte ich als Radfahrer*in achten?

    Menschen, die Rad fahren oder zu Fuß gehen, gehören zu den ungeschützten Verkehrsteilnehmern. Sie haben keine Knautschzone – deshalb ist es umso wichtiger, sich umsichtig im Straßenverkehr zu verhalten. Dazu gehört es, selbstbewusst als Radfahrender im Straßenverkehr aufzutreten, aber gleichzeitig defensiv zu agieren, stets vorausschauend zu fahren und mit Fehlern von anderen Verkehrsteilnehmern zu rechnen.Passen Sie Ihre Fahrweise der entsprechenden Situation an und verhalten Sie sich vorhersehbar, in dem Sie beispielsweise Ihr Abbiegen durch Handzeichen ankündigen. Halten Sie Abstand von Lkw, Lieferwagen und Kommunalfahrzeugen. Aus bestimmten Winkeln können Fahrer nicht erkennen, ob sich seitlich neben dem Lkw Radfahrende befinden. Das kann bei Abbiegemanövern zu schrecklichen Unfällen führen. Beachten Sie immer die für alle Verkehrsteilnehmer gültigen Regeln – und seien Sie nicht als Geisterfahrer auf Straßen und Radwegen unterwegs.

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  • Was ist der Unterschied zwischen Pedelecs und E-Bikes?

    Das Angebot an Elektrofahrrädern teilt sich in unterschiedliche Kategorien auf: Es gibt Pedelecs, schnelle Pedelecs und E-Bikes. Pedelecs sind Fahrräder, die durch einen Elektromotor bis 25 km/h unterstützt werden, wenn der Fahrer in die Pedale tritt. Bei Geschwindigkeiten über 25 km/h regelt der Motor runter. Das schnelle Pedelec unterstützt Fahrende beim Treten bis zu einer Geschwindigkeit von 45 km/h. Damit gilt das S-Pedelec als Kleinkraftrad und für die Benutzung sind ein Versicherungskennzeichen, eine Betriebserlaubnis und eine Fahrerlaubnis der Klasse AM sowie das Tragen eines Helms vorgeschrieben. Ein E-Bike hingegen ist ein Elektro-Mofa, das Radfahrende bis 25 km/h unterstützt, auch wenn diese nicht in die Pedale treten. Für E-Bikes gibt es keine Helmpflicht, aber Versicherungskennzeichen, Betriebserlaubnis und mindestens ein Mofa-Führerschein sind notwendig. E-Bikes spielen am Markt keine große Rolle. Dennoch wird der Begriff E-Bike oft benutzt, obwohl eigentlich Pedelecs gemeint sind – rein rechtlich gibt es große Unterschiede zwischen Pedelecs und E-Bikes.

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  • Gibt es vom ADFC empfohlene Radtouren für meine Reiseplanung?

    Wir können die Frage eindeutig bejahen, wobei wir Ihnen die Auswahl dennoch nicht leicht machen: Der ADFC-Radurlaubsplaner „Deutschland per Rad entdecken“ stellt Ihnen mehr als 165 ausgewählte Radrouten in Deutschland vor. Zusätzlich vergibt der ADFC Sterne für Radrouten. Ähnlich wie bei Hotels sind bis zu fünf Sterne für eine ausgezeichnete Qualität möglich. Durch die Sterne erkennen Sie auf einen Blick mit welcher Güte Sie bei den ADFC-Qualitätsradrouten rechnen können.

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