Allgemeiner Deutscher Fahrrad-Club Landesverband Berlin e. V.

Das letzte Geleit

Rund 200 Geisterräder haben SuSanne Grittner und ein Team von Ehrenamtlichen in den letzten 15 Jahren aufgestellt. Über

einen unermüdlichen, aber bedeutenden Einsatz.

Es ist dieser Moment der Stille, der unter die Haut geht. Eben noch rasten die Autos vorbei, dröhnte der Bus, gaben die Laster Gas. Dann ist es ruhig. Endlich. Rund 60 Menschen setzen sich an diesem Samstag, 7. September, auf die Fahrbahn und schweigen. In ihrer Mitte liegt ein weißes Fahrrad, ein Geisterrad. Aus der Ferne ist das Hupen der wartenden Autos zu hören. Doch hier, in diesem Moment, für diese drei Minuten, ist es geradezu friedlich. Es ist der letzte Abschied für einen Radfahrer, der an dieser Stelle mit einem BVG-Bus zusammengestoßen ist. Die Unfallmarkierungen der Polizei sind noch zu sehen, dazwischen rote Flecken.

Am 19. August 2024, um 16:10 Uhr,  fuhr der 81-jährige Radfahrer über die Perleberger Brücke in Richtung Heidestraße. Auf der Brücke wird gebaut, die Fahrbahn ist auf eine Spur verengt, eine Ampel regelt den Verkehr. Rad- und Fußverkehr werden hier –   ziemlich unübersichtlich, ziemlich eng – getrennt von der Kfz-Fahrbahn an der Baustelle entlanggeführt. Aus bisher ungeklärtem Grund geriet der Radfahrer auf die Fahrbahn. In diesem Moment fuhr ihm ein BVG-Busfahrer entgegen, Bus und Fahrrad stießen zusammen. Zwei Wochen später starb der Radfahrer im Krankenhaus. 

Seit 2009 stellt der ADFC Berlin weiße Geisterräder an den Orten tödlicher Unfälle auf. „Die Geisterräder sollen mahnen und erinnern. Ihre Botschaft richtet sich an alle, im Verkehr vorsichtig zu sein, damit es gar nicht erst zu Unfällen kommt. Die Geisterräder sind aber auch Erinnerungsorte. Da sind zum Beispiel die Angehörigen, die immer wieder zu ihnen zurückkehren, um Blumen anzubringen, Fotos oder Kuscheltiere festzumachen und zu trauern“, sagt SuSanne Grittner, die zusammen mit einem kleinen Team von Mitstreiter:innen in den letzten 15 Jahren rund 200 Geisterräder an Laternenmasten, Zäunen, Brückengeländern und Bäumen anbringen musste. Es ist auch der Versuch, den Opfern gerechter zu werden, als es eine Zahl in der Unfallstatistik je könnte.

„Senior nach Verkehrsunfall verstorben“, titelte die Polizeimeldung vom 29. August 2024 im Fall des 81-jährigen Radfahrers. Sobald die Pressemitteilung der Polizei veröffentlicht ist, beginnt das Team mit der Arbeit. Der Unfallort wird aufgesucht, Fotos werden gemacht und der vermutete Unfallhergang wird rekonstruiert. Der Ablauf ist immer gleich, wobei an alle Menschen gedacht wird, die auf dem Fahrrad im Straßenverkehr ums Leben kommen, unabhängig von der Unfallursache. 

Steht im Velokiez des ADFC Berlin noch ein weißes Geisterrad? Wenn nicht, muss schnell eines vorbereitet werden. Dazu wird das zumeist gespendete Fahrrad weiß lackiert. Teile, die geklaut werden  könnten, wie Schaltung, Bremse und Gepäckträger, werden abmontiert und gespendet. Zeitgleich wird ein Termin für die VisionZero-Demo und die Geisterradaufstellung festgelegt, die Route überlegt, die Demo bei der Polizei angezeigt und festgelegt, wer die Lautsprecherboxen mitbringt. Außerdem wird das Schild mit dem Alter und Todestag des Radfahrers oder der Radfahrerin angefertigt und schließlich ein gutes Schloss bereit gelegt. All das geschieht innerhalb weniger Tage. Das Team arbeitet rein ehrenamtlich. 

Als die Idee der Geisterräder Anfang der 2000er Jahre aus den USA nach Berlin kam, sorgte sich der damalige ADFC-Vorstand: Es könnte Angst vor dem Radfahren machen, wenn plötzlich in der ganzen Stadt Geisterräder am Straßenrand stehen würden. Tatsächlich lag damals die Anzahl der Fahrradtoten bei 20 bis 30 pro Jahr; heute sind es 10 bis 15.  „Um Angst soll es beiden Geisterrädern eben nicht gehen“, versichert SuSanne Grittner. Neben Mahnung und Erinnerung wollen sie auch auf die Unfallursachen aufmerksam machen. Rechtsabbiegende Lkw sind nach wie vor eine der Hauptursachen für tödliche Unfälle. Erst am 27. Juli überrollte ein 42-jähriger Lkw-Fahrer eine 26-jährige Radfahrerin, als er mit seinem Lkw nach rechts abbog, während die Radfahrerin weiter geradeaus fuhr. Seit vielen Jahren  fordert  der  ADFC  deshalb verpflichtende Abbiegeassistenten für alte und neue Lkw, die mit einem Kollisionserkennungssystem arbeiten und einen Notstopp auslösen können.

Am Tag der VisionZero-Demo wird das weiße Geisterrad dann auf ein Lastenrad geschnallt und zum Unfallort transportiert „Das erinnert an eine Prozession“,  sagt  SuSanne  Grittner. Keine Reden, keine Sprechchöre, still und feierlich fahren die manchmal nur ein paar Dutzend, manchmal mehr als zweihundert Frauen und Männern an den Unfallort, unabhängig davon ob dieser in der Innenstadt oder in Spandau liegt. Die letzten Meter werden dann möglichst auf der Strecke gefahren, die auch der getötete Radfahrer oder die getötete Radfahrerin fuhr. „Wir wollen ihre Perspektive einnehmen“, sagt SuSanne Grittner.

Die Geisterräder stehen in der Regel bis zum Totensonntag des darauf folgenden Jahres. Es sei denn, die Angehörigen wünschen sich, dass die weißen Räder länger bleiben – beispielsweise bis nach dem Ende des Gerichtsprozesses. „Mit dem Prozess ist dann meistens etwas abgeschlossen“, sagt SuSanne Grittner. Sie spricht aus Erfahrung. Immer wieder bescchen sie oder andere aus dem Team Gerichtsprozesse, sprechen mit Angehörigen und beraten sie, wenn das gewünscht ist. So kann es zum Beispiel durch aus sinnvoll sein, wenn Angehörige als Nebenkläger:innen auftreten, da sie dann über die Anwält:innen Akteneinsicht erhalten. „Wir sind für die Angehörigen da, schauen uns aber auch die Unfallrekonstruktion vor Gericht an, um daraus wichtiges Wissen für die Verkehrssicherheitsberatung zu gewinnen oder politische Forderungen abzuleiten“, sagt SuSanne Grittner. 

Besonders belastet es sie, wenn sie ein Kindergeisterrad zum Unfallorttransportieren müssen und die Trauer so wie den Schmerz der Eltern mit erleben. „Das ist wirklich schwer auszuhalten, aber umso wichtiger“, sagt SuSanne Grittner. Mit manchen Angehörigen steht sie seit Jahrzehnten in Kontakt. 

Die stillen drei Minuten der Mahnwache sind vorbei; das Geisterrad wird vom Boden aufgehoben und an der Laterne  angeschlossen. Dazu gibt es ein dreimaliges Klingeln mit der Fahrradklingel. Für heute hat das Geisterrad-Team seine Pflicht getan. Schweigend fahren sie nach Hause, in der Hoffnung, dass ihr letztes Geleit nicht so schnell wieder benötigt wird.

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