Vom Tetzelkasten zur Thesentür

500 Jahre Reformation. Ein Jubiläum, an dem man in diesem Jahr kaum vorbeikommt.

Besonders gut erfahren lassen sich die Wurzeln des Protestantismus auf dem Luther-Tetzel-Weg, dem kirchenhistorischen Radweg zwischen Jüterbog, der »Stadt des Anstoßes«, und der Lutherstadt Wittenberg. TEXT UND FOTOS VON CLAUDIA LIPPERT UND KATRIN STARKE

Frühjahr 1517. Menschen pilgern in Scharen von Wittenberg nach Jüterbog. Es hat sich herumgesprochen, dass es beim Dominikanermönch Johann Tetzel Ablassbriefe gibt. Zertifikate, mit denen sie sich von ihren Sünden freikaufen können: »Sobald das Geld im Kasten klingt, die Seele in den Himmel springt.« Für acht Dukaten ist sogar ein Mord ein für alle Mal vergessen. Für Martin Luther, den Professor aus Wittenberg, ist dieses »Geschäftsmodell« schlimme Gotteslästerei. Dass da jemand die Kirche zum Kaufhaus für saubere Seelen macht, kann der Prediger nicht auf sich beruhen lassen – auch deshalb nicht, weil ihm die Gläubigen abhandenkommen. Aus Protest gegen Tetzels Ablasspraxis nagelt Luther im Oktober 1517 seine 95 Thesen an die Türen der Schlosskirche in Wittenberg.

1517 ein beschwerlicher Fußweg, heute ein gut asphaltierter Radweg

Soweit die Geschichte. Bei der Radtour auf dem Luther-Tetzel-Weg wird sie greifbar: Jüterbog steht für den Vorabend der Reformation; Wittenberg für die Reformation selbst. Dazwischen: ein Städtchen und ein paar Dörfer. Mit mittelalterlichen Feldsteinkirchen. Vier Meilen mussten die Wittenberger zurücklegen, bis sie Jüterbog erreichten. Damals ein beschwerlicher, 42 Kilometer langer Fußmarsch. Heute lässt sich die Distanz bequem mit dem Fahrrad überwinden. Auch wenn der Streckenverlauf kleine Änderungen aufweist und der 2012 eröffnete Luther-Tetzel-Weg 48 Kilometer lang ist. Von der Nikolaikirche in Jüterbog bis zur Schlosskirche in Wittenberg. Weitenteils folgt er dem Verlauf des Radwanderwegs Berlin-Leipzig, einen Teilabschnitt teilt sich der Pilgerweg mit dem Flaeming-Skate.

Ein Besuch in der Jüterboger Nikolaikirche ist Pflicht. Vom Bahnhof aus – der Regionalexpress RE 3 bringt Radler im Stundentakt von Berlin in die Fläming-Stadt – ist die binnen weniger Minuten erreicht und mit ihren zwei unterschiedlichen Türmen nicht zu verfehlen. Hier predigte Tetzel. Und hier steht in der Krypta auch der Kasten, in dem der Ablasshändler das Geld einsammelte: eine massive Holzkiste mit schweren eisernen Beschlägen, groß wie ein Sarg. Den Besuch der Mönchenkirche – Schauplatz altgläubiger Proteste gegen die aufkommende Reformation – und der Liebfrauenkirche – in der 1519 Thomas Müntzer predigte – schenken wir uns. Schließlich wollen wir Strecke machen. Durch die mittelalterliche, kopfsteingepflasterte Innenstadt nehmen wir Kurs auf das Örtchen Dennewitz – was angesichts perfekter Ausschilderung auch ohne Fahrradkarte oder Navi kein Problem ist. An jeder noch so kleinen Wegegabelung sind die runden Aufkleber mit den weißen Buchstaben ltl auf lila Grund zu finden.

 

Wo sich Biber bei der Morgentoilette beobachten lassen

In Dennewitz, das auf asphaltiertem Weg schnell erreicht ist, dominiert die gotische Feldsteinkirche, die im 30-jährigen Krieg den Dorfbewohnern Zuflucht bot. Kindergräber im Turmbereich zeugen von dieser entbehrungsreichen Zeit. Ein steinerner Koloss von Denkmal vor der Kirche erinnert an die Schlacht von 1813, in den Befreiungskriegen. Wir drehen eine Runde um den Dorfteich, weil der so idyllisch daliegt – und staunen nicht schlecht, als wir am Ufer zwei Biber entdeckten. Die Nager mit den langen orangenen Zähnen lassen sich bei ihrer Morgentoilette nicht stören. Ein seltener Anblick, sind die »Holzfäller« doch eher scheu und vornehmlich nachtaktiv. Vorbei an der Hochzeits-Mühle, einer schmucken Bockwindmühle, radeln wir durch Felder nach Gölsdorf. Die frühgotische Feldsteinkirche lassen wir »links liegen«, auch durch Seehausen geht es geradewegs hindurch. Erst in Naundorf steigen wir wieder vom Sattel. Nicht wegen Lutherscher oder Tetzelscher Spuren, sondern wegen der Strauße, die über die Weiden der Farm Schlüterhof stolzieren. Gut, dass die durch einen doppelten Drahtzaun von uns getrennt sind. Zu gern würden sie mit ihren Schnäbeln das Objektiv unserer Kamera inspizieren.

Endlich schützt uns nun dichter Mischwald vor den kräftigen Sonnenstrahlen, bis wir den Rastplatz Ottmannsdorf erreichen. Frische Feldblumen stehen auf dem von einem Holzdach geschützten Tisch. Zwei Radler haben es sich auf den Bänken gemütlich gemacht, um sich vor dem Anstieg in Richtung Naundorf zu stärken. Wir dagegen können die Räder bis nach Zahna hinein rollen lassen, vorbei am Bauernmuseum am Ortseingang, vorbei auch an der Marienkirche von 978. Wir wollen weiter nach Bülzig. Aber weil hier in Sachsen-Anhalt die Beschilderung schlechter geworden ist, verpassen wir die Abfahrt zum Parkplatz, über den der Luther-Tetzel-Weg führt. Ein Stück radeln wir stattdessen entlang der Landstraße. Und merken erst später, dass wir längst vorbei sind am 20 Hektar großen, 1993 angelegten Skulpturenpark. Eisenbahnschwellen erinnern hier an Kreuze. Metallfiguren und Holzpfähle huldigen dem »Gastmahl der Engel«.

Wittenbergs mittelalterliches Stadtbild zum Jubiläum festlich herausgeputzt

Noch zehn Kilometer bis Wittenberg. Durch ein Waldstück mit sandigem Weg, dann am Waldessaum entlang. Die Stadtkirche St. Marien kommt in den Blick, kaum dass wir das Ortsschild der Lutherstadt passiert haben. Bis in die mittelalterliche Altstadt zieht sich der Weg straßenbegleitend. Das Lutherhaus und das nur ein paar Häuser entfernt gelegene Melanchthon-Haus müssen warten, ebenso das 360-Grad-Panorama „Luther 1517“. Die gepflasterte Collegienstraße entlang radeln wir zum Markt, dem Zentrum der Lutherstadt. Mit herausgeputztem mittelalterlichen Stadtbild, dem großen Lutherdenkmal, der silbrigen Weltausstellung-Erdkugel und der Marien-Kirche, in der Luther einst predigte. Optisch erinnert der wuchtige Bau an die Nikolaikirche in Jüterbog – hätte die nicht den einen Spitzturm. Bis zur Schlosskirche, an deren Türen Luther seine Thesen anschlug, sind es nur ein paar Tritte in die Pedale. Aber das Highlight sparen wir uns für den nächsten Tag auf: Wittenberg lässt sich nicht in wenigen Stunden erkunden.

Mit dem Regionalexpress RE 3 von Berlin nach Jüterbog. Zurück ab Bahnhof Wittenberg mit dem RE 3 nach Berlin.

Infos zu den Stationen entlang der Strecke (Jüterbog, Dennewitz, Gölsdorf, Seehausen,

Naundorf, Zahna, Bülzig, Lutherstadt Wittenberg) unter www.luther-tetzel-weg
Weitere Infos unter www.reformation-im-flaeming.de

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