Kinder aufs Rad!
Eine Stadt, die an die Zukunft denkt, baut Radwege, auf denen Menschen jedes Alters mit dem Fahrrad von A nach B kommen können. Was passiert in Berlin? Von Lisa Feitsch.
Hunderte kleine Kinderfüße rollern, treten, strampeln. Die Sonne scheint, es ist warm. Auf den Lastenrädern spielt Musik. Bunte Wimpel flattern im Fahrtwind, Kinder glucksen und klingeln auf ihren Rädern. Autos sind ausgesperrt. Heute gehören die Straßen den Kindern. Es ist ein warmer Spätsommertag im September, als die Familien-Fahrraddemos Kidical Mass durch die Straßen Berlins rollen.
In Deutschland werden 43 Prozent aller Kinder unter zehn Jahren mit dem Auto zur Schule gefahren (Mobilität in Deutschland, 2017). In den Niederlanden, dem Land mit dem am besten ausgebauten Radwegenetz weltweit, sind es nur 28 Prozent. Das liegt nicht daran, dass die Schulwege der Kinder in
Deutschland so lang sind. Knapp die Hälfte der Wege (47 Prozent) ist unter einem Kilometer, 68 Prozent sind unter zwei Kilometer und 89 Prozent aller Schulwege sind unter fünf Kilometer lang. Das liegt wohl eher daran, dass es vielerorts keine guten, ausgebauten Radwege gibt, die Eltern und Familien dazu einladen würden, vom Auto aufs Rad mit Kindersitz oder -anhänger oder aufs Lastenrad um zusteigen. Stattdessen verstärken immer größer werdende Elterntaxis das Ver kehrschaos vor Schulen und Kitas. So trauen sich noch weniger Eltern, ihre Kinder zu Fuß oder mit dem Rad zur Schule zu schicken.
In Berlin soll viel passieren. Zum Beispiel sind vor kurzem zwei neue, breite Radwege fertiggestellt worden – auf der Karl-Marx-Allee und auf der Oberbaumbrücke. Das Modellprojekt „Friedrichstraße autofrei“ hat noch ein paar Monate Zeit, sich zu beweisen. Die Projekte der Verkehrswende zeigen schon jetzt: Weniger Autos, weniger Stress. Mehr Platz für Menschen, mehr Lebensqualität. Sie zeigen auch: Berlin, da geht noch mehr.
Gleichzeitig nimmt der Radverkehr in der Hauptstadt rasant zu. Immer mehr Menschen legen ihre täglichen Wege zu Arbeit, Uni, Kneipe oder Sport mit dem Fahrrad zurück. Viel zu oft werden diese Wege jedoch noch zum Hindernisparcours: wir werden zu eng überholt; rechts geht die Tür eines parkenden Autos auf; vor uns steht wieder ein Transporter, der auf dem Radstreifen hält; es sind immer mehr Lkw unterwegs, die wir keinesfalls aus dem Blick verlieren dürfen. Der Weg mit dem Rad zu Kita und Schule wird zur Mutprobe.
Studien zu Mobilität und Kindern sind sich einig: Kinder, die zu Fuß oder mit dem Fahrrad zur Schule oder Kita kommen, können sich aufgrund der Bewegung besser konzentrieren. Sie nehmen ihre Umgebung besser wahr und lernen leichter, sich selbstständig und sicher im Verkehr zu bewegen. Wer Fahrrad fährt, ist unabhängig und gewinnt an Freiheit. Ganze 81 Prozent der Menschen in Deutschland stimmen bei einer vom ADFC beauntragten repräsentativen Meinungsumfrage (September, 2020) der Aussage zu: »Für Kinder ist es das Beste, wenn sie möglichst eigenständig zu Fuß oder mit dem Fahrrad zur Schule kommen.« Mehr als drei Viertel der Bevölkerung (77 Prozent) meinen: »Mehr Eltern würden ihre Kinder mit dem Rad zur Schule fahren oder zu Fuß gehen lassen, wenn die Schulwege sicherer wären.«
Laut Mobilitätsgesetz sollen überall in Berlin Wohngebiete, Arbeits- und Bildungseinrichtungen, Nahversorger und Freizeitangebote durch Radwege miteinander verbunden sein. Ein zusammenhängendes Radverkehrsnetz soll schnelle, bequeme und sichere Verbindungen bieten. Abgesehen von einzelnen Projekten – blickt man da rauf, wie der Platz in der Stadt insgesamt verteilt ist, wie Ampeln ge schaltet sind
und wo gute Radinfrastruktur fehlt, merkt man schnell: Noch fragt sich die Stadt nicht, wie möglichst viele Kinder und Familien sicher und kom fortabel, gesund und klimafreundlich mit dem Rad zu Kita und Schule kommen. Noch dominiert die autogerechte Planung das Berliner Stadtbild, um: möglichst viele Pkw und Lkw durch die Straßen zu schleusen.
Der Umbau Berlins zur klimafreundlichen Fahrradstadt bis 2030 ist durch das Mobilitätsgesetz beschlossen. Wichtigstes Planungsdokument ist der Radverkehrsplan. Dieser ist gerade erst in Bearbeitung und muss vom Berliner Senat verabschiedet werden. Er soll konkrete Ziele und Maßnahmen enthalten und den Bezirken Fristen und Zwischenschritte vorgeben. Ob diese umgesetzt werden, entscheidet, ob die im Mobilitätsgesetz festgelegten Ziele erreicht werden. Bevor es losging mit den bunten Familien-Fahrraddemos im September, sag te eine der Initiator*innen der Kidical Mass: Wer beurteilen will, ob eine Stadt gut zum Radfahren ist, muss sich fragen: Würde ich mein Kind hier allein mit dem Rad fahren lassen? Wenn die Antwort „Nein“ lautet, muss etwas passieren. An die ser Frage muss sich Berlin messen lassen.
Eine Stadt, die an die Zukunft denkt, nimmt diese Herausforderung an.