Geisterrad in Dahlem

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10.02.2022: #VisionZero-Demo und Geisterrad-Mahnwache in Dahlem

Erstmals in diesem Jahr ist eine Radfahrerin bei einem Verkehrsunfall ums Leben gekommen: Am 09.02.2022 erfasste ein Lkw-Fahrer die 81-Jährige Radfahrerin auf der Saargemünder Straße in Dahlem.

Am 09.02.2022 befuhr die 81-Jährige gegen 11:00 Uhr die Saargemünder Straße in Dahlem auf dem Schutzstreifen in Richtung Clayallee. Als sie zur Grundstückszufahrt an der Hausnummer 25 kam, wollte ein 27-jähriger Lkw-Fahrer mit seinem Sattelschlepper das Grundstück verlassen und auf die Saargemünder Straße nach links in Richtung Brümmerstraße fahren. Dabei erfasste der Lkw-Fahrer die Radfahrerin mit seinem Fahrzeug. Sie geriet unter die Zugmaschine und verstarb am Unfallort.

Mit einer #VisionZero-Fahrraddemonstration, einer Mahnwache und einer Kundgebung gedachten der ADFC Berlin e. V. und Changing Cities e. V. der Radfahrerin.

Die #VisionZero-Fahrraddemonstration am 10.02.2022 begann mit etwa 20 Teilnehmenden am Velokiez des ADFC in Kreuzberg. Mit der Demonstration bekräftigte der ADFC Berlin die Zielsetzung des Mobilitätsgesetzes, dass sich keine Verkehrsunfälle mit schweren Personenschäden ereignen dürften; an diesem Ziel müssen Politik und Verwaltung ihr Handeln ausrichten!

Nach der Mahnwache wurde die Fahrraddemonstration mit etwa 90 Teilnehmenden fortgesetzt. Bei der Abschlusskundgebung vor dem Bundesministerium für Digitales und Verkehr (BMDV) waren noch etwa 30 Radfahrende anwesend.

 

Mahnwache und Aufstellung des Geisterrads

An der eigentlichen Mahnwache am Unfallort waren mehr als 200 Personen anwesend, darunter Nachbarn, Anwohnende und Unfallzeugen sowie die Bezirksbürgermeisterin Maren Schellenberg. In seiner Gedenkrede sprach Dirk Schneidemesser (Changing Cities) von der Leere, die der plötzliche Tod im Leben von Angehörigen und Freunden hinterließ, und sprach ihnen gegenüber von Solidarität und Beileidsbekundung der Anwesenden. Die übliche Bezeichnung „Verkehrsunfall“ hielt er für unpassend, weil ein Unfall ein plötzliches, unvorhergesehenes Ereignis sei. Tatsächlich sei der Tod der Radfahrerin Folge von „Verkehrsgewalt“ und er kritisierte, dass diese Gewalt „von uns“, also von der Gesellschaft als Teil des Systems „Verkehr“ akzeptiert würde. Also kann und muss die Gesellschaft dieses System so ändern, dass Tote und Schwerverletzte nicht mehr hingenommen werden, sondern die #VisionZero Realität wird.

Nach der Ansprache gedachten die Anwesenden mit einigen Schweigeminuten der Getöteten. Anschließend stellten SuSanne Grittner (ADFC) und Kerstin Leutloff (Changing Cities) das Geisterrad auf. Mit Blumen und Kerzen gaben die Anwesenden ihrer Trauer Ausdruck.

Forderungen an den Verkehrsminister

Schon zum Amtsantritt von Verkehrsminister Wissing am 08.12.2021 hatte der ADFC zum Geisterrad am Volkspark Friedrichshain die #VisionZero-Demonstration am Verkehrsministerium abgeschlossen und die Forderungen nach schneller Einführung von Abbiegeassistenten mit Kollisionserkennung und Notstopp vorgetragen. In ihrer Rede am 10.02.2022 verwies SuSanne Grittner zunächst auf die Statistik mit der hohen Beteiligung von Lkw-Fahrern am Unfallgeschehen: Seit 2013 sind in Berlin 116 Radfahrende im Verkehr ums Leben gekommen, davon 53 durch Kollisionen mit Lkw; im Vorjahr waren es 6 Radfahrende (von 10 getöteten), und auch beim ersten tödlichen Unfall dieses Jahres war offensichtlich ein Lkw-Fahrer der Unfallverursacher. (In ganz Deutschland kamen seit 2013 bei insgesamt 3 949 getöteten Radfahrenden 699 durch Lkw-Fahrende ums Leben, im Vorjahr 57 von 344 und aktuell 4 von 25.)

Den üblichen Verweis aus der Politik, dass die EU ab 2022 für neue Lkw (genauer: für neue Typ-Zulassungen) Abbiegeassistenten verpflichtend vorsieht, ließ SuSanne nicht gelten, schon weil in der EU-Regelung Kollisionserkennung und Notstopp-Einrichtung fehlen. Vor allem handele es sich bei den „Unfallgegnern“ von getöteten Radfahrenden weit überwiegend um Fahrer aus Deutschland mit Lkw, die in Deutschland zugelassen seien. Dafür kann die deutsche Politik über die EU-Regelungen hinausgehen: „Zum Schutz der Radfahrenden müssen alle Lkw aus Deutschland unverzüglich mit geeigneten Abbiegeassistenzsystemen ausgestattet und nachgerüstet werden – inklusive Kollisionserkennung und Notstoppsystem.“

Zu den Umständen des Unfalls

Schon die Meldungen zum Unfall in den Medien und bei der Polizei verursachten Kopfschütteln und Entsetzen, wie dieser Unfall geschehen konnte. Die Saargemünder Straße ist an der betreffenden Grundstückszufahrt sehr übersichtlich; die Richtungsfahrbahnen sind durch einen grünen Mittelstreifen getrennt, mit wenig Bäumen und ohne Sträucher; unmittelbar an der Zufahrt gibt es einen Fußgängerüberweg – die Sicht auf den Schutzstreifen für Radfahrende ist völlig frei. Wie sollte bei dieser Situation die Radfahrerin unter die Zugmaschine des Sattelschleppers geraten …

Am Rande der Mahnwache schilderte eine Augenzeugin ihre Beobachtungen: Zunächst hatte der Lkw-Fahrer offenbar „nur“ das Fahrrad erfasst: es hing vorn am Lkw. Die Radfahrerin kam offenbar von der Seite, stellte sich gestikulierend vor den Lkw und versuchte dadurch, den Fahrer auf sich und auf das Fahrrad aufmerksam zu machen. Der Lkw-Fahrer scheint weder auf die Frau geachtet noch in Front- und Rampenspiegel geschaut zu haben, sondern fuhr auf Höhe des grünen Mittelstreifens wieder an und überrollte die Frau. Inzwischen gab es wohl von Passant:innen auf der gegenüberliegenden Fahrbahnseite Handzeichen, auf die der Lkw-Fahrer schließlich reagierte: Er setzte sein Fahrzeug zurück – und überrollte die Frau ein zweites Mal. Eine Verkettung von Fahrfehlern und (Fehl-)Entscheidungen hat vermutlich zum Tod der Radfahrerin geführt.

Unabhängig von der tatsächlichen Unfallursache dürfte klar sein: Ein Lkw-Assistenzsystem mit Kollisionserkennung vorne und an den Seiten hätte vielleicht bereits das Erfassen des Fahrrads erkannt. Aller Wahrscheinlichkeit nach hätte das Überrollen und damit der Tod der Radfahrerin verhindert werden können.

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