radzeit: Bezirkscheck in Neukölln © ADFC Berlin

Die ultimative Prüfung - bunt, jung und voller Radverkehr

Ohne die Bezirke gibt es keine Verkehrswende in Berlin. Damit ein neuer Radweg gebaut wird, muss das Bezirksamt aktiv werden und mit der Senatsverwaltung zusammenarbeiten. Von Nikolas Linck.

Die radzeit macht deshalb eine Tour durch alle 12 Bezirke und stoppt dieses Mal in Neukölln. Der quirlige Bezirk ist bunt, jung und voller Radverkehr. Trotzdem ersticken die Kieze in Autolawinen, die Hauptstraßen sind nur etwas für Hartgesottene. Die Politik will das ändern – eine Mammutaufgabe, die Mut erfordert. 

Das erste Mal in meinem Leben lernte ich Fahrrad fahren, als ich vier Jahre alt war, vor dem Haus meiner Eltern in Schleswig-Holstein. Das zweite Mal lernte ich Fahrrad fahren, als ich vor acht Jahren nach Neukölln zog.

»Neukölln, ist das nicht gefährlich dort?«, raunten einige ehrfürchtig, als sie von meinen Plänen hörten. Sie hatten Recht – allerdings nur, was das Radfahren betraf. Auf meiner ersten Fahrt über die Sonnenallee röhrten aufgemotzte Sportwagen wenige Zentimeter an meinem Lenker vorbei. Autos, die in zweiter Reihe parkten, zwangen mich zu halsbrecherischen Slalomfahrten. Mein ausgestreckter Arm als Signal zum Abbiegen wurde konsequent ignoriert. Die bloße Tatsache, dass ich hier, wo es keinen Radweg gab, mit meinem Fahrrad fuhr, schien eine Provokation für die Menschen hinter den Windschutzscheiben zu sein.

Radfahren an diesem Ort ist die ultimative Prüfung, das wurde mir schnell klar. In meinem Kiez lernte ich zwei Sorten von Menschen kennen: Die einen radeln aus Überzeugung, die anderen lassen es ganz – aus Angst um Leib und Leben, oder weil sie nach dem dritten Fahrraddiebstahl ohnehin lieber in ein BVG-Abo investieren.

Ich beschloss, die Herausforderung anzunehmen und begann, was sich wie ein tägliches Überlebenstraining anfühlte. Die Sonnenallee steigerte mein Reaktionsvermögen und meine Sinneswahrnehmungen auf ein zuvor nie erreichtes Level. Die Fahrt ersetzte meinen morgendlichen Espresso, wenn ich vollgepumpt mit Adrenalin mein Ziel erreichte. Am Wichtigsten ist jedoch im Rückblick: Die Sonnenallee machte Verkehr für mich zum ersten Mal zu einer politischen Frage. Denn ich begann mich zu wundern, wieso hier eigentlich drei Spuren für parkende Autos reserviert sind (auf dem Mittelstreifen sogar quer), daneben vier Spuren für fahrende Autos, aber keine einzige für mich und die vielen anderen Radfahrenden – obwohl es für uns hier am gefährlichsten ist. Autogerechte Stadtplanung nennt man sowas, lernte ich, als ich meine Arbeit beim ADFC begann.

Ich lernte auch, dass die Verantwortlichen nicht viel Interesse daran hatten, diesen Zustand zu ändern. Einmal fragte ich den damaligen Stadtrat für Verkehr, Thomas Blesing (SPD), ob er mal auf der Sonnenallee Fahrrad gefahren sei. Er lachte mich aus und rief: »Ich bin doch nicht lebensmüde!« Als der ADFC Berlin 2016 seine Unterstützung für den Volksentscheid Fahrrad ankündigte, meldete sich Heinz Buschkowsky, bis 2015 Bezirksbürgermeister von Neukölln, in der BILD-Zeitung zu Wort. In einem Gastbeitrag verurteilte er die Ziele des Volksentscheids als »verantwortungslos« und »egoistisch« und verkündete öffentlich seinen Austritt aus der »Spinnertruppe« ADFC.

Bürger*innen machen Druck
Das war Neukölln, wie ich es kennenlernte. Der Wind drehte sich 2015 mit der neuen Bezirksbürgermeisterin Franziska Giffey (SPD). Die brachte zwar keine Fachkenntnis zum Verkehr mit, erkannte aber die Dringlichkeit und hörte den Bürgerinnen und Bürgern zu. Denn die hatten längst die Nase voll von Autokolonnen, die beim Umfahren der verstopften Hauptstraßen durch die Nebenstraßen rauschten und wollten endlich sicher Fahrrad fahren. Neben der Stadtteilgruppe des ADFC schlossen sich 2015 einige Engagierte zum »Netzwerk Fahrradfreundliches Neukölln« zusammen. Sie gewannen Schulen, Kitas und Gewerbetreibende als Verbündete im Kiez, suchten Kontakt zu Abgeordneten und Medien und begannen, ihr Anliegen ins Rathaus zu tragen. Ein Jahr später ging Stadtrat Blesing in den Ruhestand. Giffey übernahm das Straßen- und Grünflächenamt und damit die Verantwortung für die bezirkliche Verkehrspolitik.

In der Bezirksverordnetenversammlung (BVV) gab es nun eine Zählgemeinschaft aus SPD und Grünen (statt CDU). Erstmals wurde der Neuköllner FahrRat wieder ins Rathaus einberufen. Im Landeshaushalt waren pro Bezirk neuerdings zwei zusätzliche Stellen für die Radverkehrsplanung vorgesehen. Neukölln handelte schnell und stellte ein engagiertes Duo ein, während andere Bezirke noch heute vergeblich suchen. 2018 übernahm Martin Hikel das Amt von Giffey, die heute Bundespolitik als Familienministerin macht. Der 32-Jährige ist selbst Radfahrer und setzt ihre Linie in der Verkehrspolitik fort (zum Interview geht’s hier).

Erfolge mit zweifelhafter Wirkung
So wurde in den letzten Jahren endlich einiges umgesetzt, was mitunter schon lange geplant war. Zwei Fahrradstraßen wurden eingeweiht, 1.000 neue Fahrradbügel aufgestellt, Kopfsteinpflaster wurde durch Asphalt ersetzt und die Karl-Marx-Straße im Herzen des nördlichen Bezirks wird umgebaut. Doch Verkehr in Neukölln, das sind sehr viele Menschen auf sehr engem Raum, die Regeln im Zweifel nicht sehr ernst nehmen. Gleich nachdem Martin Hikel den neuen Radschutzstreifen auf der Karl-Marx-Straße feierlich eingeweiht hatte, wurde er schon munter als Parkstreifen genutzt. Und zwar nicht zum »kurz Brötchen holen«, sondern den ganzen Tag, auf beiden Seiten. Nach regelmäßigen Schwerpunkteinsätzen des Ordnungsamts gibt es heute bessere und schlechtere Tage. Ganz sind die Streifen selten.

Die neu asphaltierten Nebenstraßen wiederum laden nicht nur zum Radfahren ein, sondern einige Autofahrer auch zum Rasen. In der Friedelstraße maß ein Anwohner auf eigene Faust die Geschwindigkeit des Autoverkehrs vor und nach der Asphaltierung. Er stellte eine deutliche Erhöhung fest, mit Spitzengeschwindigkeiten von 70 km/h, wo 30 erlaubt sind. Und dann gibt es schließlich die neue Fahrradstraße am Weigandufer. Sehnsüchtig haben Radfahrende auf sie gewartet – endlich eine sichere Alternative zur Sonnenallee! Hier treffe ich mich mit Thomas Stein (31) vom Netzwerk Fahrradfreundliches Neukölln.

Während wir am Café an der Ecke Weigandufer/Wildenbruchstraße Limonade trinken, lenken ununterbrochen Autofahrer*innen ihre Fahrzeuge über das riesige Fahrrad-Piktogramm hinein oder hinaus. Dass sie das hier nur dürfen, wenn sie Anlieger*innen sind, hat sich entweder noch nicht herumgesprochen, oder es ist allen egal.

Ziel: Durchgangsverkehr reduzieren
»Für mich ist das kein großes Problem«, sagt Radaktivist Thomas mit Blick auf den Autostau in der Fahrradstraße, »aber ich bin nicht der Maßstab«. Mit einem Kind würde er diese Straße eher nicht entlangfahren, dabei sei genau das doch das Ziel. Wie alle Radfahrenden in Neukölln ist Thomas ungeduldig. Wie alle hat auch er zahlreiche Anekdoten von haarscharfen Überholmanövern und Auseinandersetzungen mit Autofahrer*innen.

»Umgewöhnung braucht Zeit«, sagt Bürgermeister Hikel im radzeit-Interview. Das glaubt von den Radfahrenden, mit denen ich spreche, niemand. Ich auch nicht, erst recht nicht, nachdem ich vor einigen Wochen einen Wagen der »Fahrschule Sonne« in der Fahrradstraße sah, der von der Polizei kontrolliert wurde. Ich traute meinen Ohren nicht, als die Beamten den Fahrlehrer über die Regeln einer Fahrradstraße aufklären mussten.

Thomas Stein sagt trotz allem, dass in den letzten Jahren viel passiert ist und lobt das engagierte neue Planungs-Duo im Bezirksamt. Das hat im Straßen- und Grünflächenamt Neukölln mit Wieland Voskamp einen kundigen Leiter, der nebenbei die Bezirke im Berliner FahrRat vertritt. Es sind vor allem die Nebenstraßen, die sich Martin Hikel und sein Bezirksamt vorgenommen haben. Durchgangsverkehr soll reduziert und Fahrradrouten ertüchtigt werden. Das nächste Projekt ist der Umbau der kompletten Weserstraße zur Fahrradstraße, die direkt neben der Sonnenallee verläuft. Der Böhmische Platz im Richardkiez wird derzeit umgebaut. Modalen Filter, also Durchfahrtssperren für Autos, sollen ihn zu einem Ort machen, an dem man enspannt flanieren, Radfahren und sich aufhalten kann.

Thomas und seine Mitstreiter*innen wünschen sich solche Maßnahmen schneller. Warum nicht auch auf der Friedelstraße heute schon Poller aufstellen, wenn dort nachweislich gerast wird? Warum nicht mehr Einbahnstraßen ausweisen, um Schleichwege durch die Nebenstraßen zu verhindern? Gleich nebenan im Kreuzberger Gräfekiez funktioniere das problemlos, sagt Thomas. Bürgermeister Hikel will erst ein Gesamtkonzept, statt mit einzelnen Maßnahmen loszulegen. Auch mit der Parkraumbewirtschaftung, dem wohl mächtigsten Instrument gegen den wachsenden Autoverkehr, soll es langsam gehen, Zone für Zone.

Auf ein Gesamtkonzept wird auch für die Hermannstraße gewartet. Die dritte Magistrale im Norden Neuköllns steht in ihrem Ruf der Sonnenallee in nichts nach. Hier treffe ich Christa Emde von der ADFC-Stadtteilgruppe Neukölln. Christa wohnt seit 22 Jahren in Neukölln und ist routinierte Radfahrerin – um die Hermannstraße macht sie trotzdem einen Bogen. »Ich habe zum Glück Zeit«, sagt sie und nutzt einen Umweg abseits der Hauptstraße. Wenn sie direkt in die Hermannstraße muss, steigt sie ab und schiebt – das ärgert sie. Radverkehr auf Nebenstraßen lenken, um komplizierte Hauptstraßen nicht anfassen zu müssen, dieses Konzept geht auch für Christa nicht auf: »Menschen haben auch Ziele an den Hauptstraßen, da gibt es Geschäfte, Büros, Altersheime, Kitas«, sagt sie.

Ich treffe Christa an der Ecke Hermannstraße/Thomasstraße. Von hier führt ein breiter Weg hoch zum Tempelhofer Feld, wohin selbst an diesem Montagmorgen Scharen von Spazierenden und Radfahrenden pilgern. Dafür müssen sie jedoch erst lebend über die vierspurige Hermannstraße kommen, wo es trotz der vielen Feld-Besucher*innen weder Ampel noch Zebrastreifen gibt. Durch den ständig querenden Fuß- und Radverkehr über die Hauptstraße ergeben sich aberwitzige Situationen: Trauben von Menschen mit und ohne Fahrrad stauen sich am Fahrbahnrand, bis der Rückstau der Autos von der nächsten Ampel mal auf ihrer Höhe ankommt, sodass sie hinüberhasten können. Seit Jahren soll hier eine Ampel gebaut werden, aber wie so oft in Berlin ist das erstmal nur ein frommer Wunsch. Nach zahlreichen überwundenen Hürden wartet der Bezirk jetzt nur noch auf das ausführende Unternehmen Alliander. Das ist im Land Berlin allein für den Bau von Ampeln zuständig und braucht locker mehrere Jahre, um ein aufzustellen.

Geschützte Radfahrstreifen geplant
Christa rollt mit den Augen, als sie das erzählt. Als Bürgerdeputierte der Grünen im Ausschuss für Stadtentwicklung und Vertreterin des ADFC im Neuköllner FahrRat kennt sie die quälend langsamen Mühlen der Verwaltung. Trotzdem weiß sie die jüngsten Fortschritte zu schätzen. Auf den neuen Fahrradstraßen haben Radfahrende beispielsweise Vorfahrt, an den Einmündungen der Querstraßen stehen Stoppschilder mit Haltelinien und großen Fahrradpiktogrammen. Statt auf den Leitfaden zur Gestaltung von Fahrradstraßen zu warten, den der Senat versprochen hat, legt Neukölln schon mal los. In Tempelhof dagegen wird die Einrichtung von Fahrradstraßen aus diesem Grund auf unbestimmte Zeit verschoben. Christa freut sich auch, dass auf der Karl-Marx-Straße in Richtung Norden abschnittsweise Poller das ständige Zuparken verhindern sollen. Und auch für die Hermannstraße wird endlich der Bau eines geschützten Radfahrstreifens geprüft. Mit dem ist allerdings frühestens in fünf Jahren zu rechnen.

Wer sich südlich der Berliner Ringbahn bewegt, erlebt ein anderes Neukölln. Reihenhäuser und Kleingartensiedlungen werden durchschnitten von breiten Hauptstraßen, an denen meist mehr oder weniger gute Radwege auf dem Bordstein verlaufen. Auch hier gibt es problematische Kreuzungen und einige Wege müssen dringend saniert werden. Aber ohne den Verkehr des dicht besiedelten Nordens radelt es sich entspannter. Viele Menschen pendeln jedoch jeden Tag mit dem Auto aus dem Süden Neuköllns stadteinwärts. Dabei verstopfen sie die Magistralen im Norden und weichen dem Stau durch die Wohnkieze aus. »Ich wünsche mir, dass auch ohne Druck mal etwas passiert«, sagt Radaktivist Thomas. Und Christa gibt zu bedenken, dass auch das neue Personal für den Radverkehr nur so radfreundlich planen kann, wie die Politik es zulässt.

Neukölln hat sich auf den Weg gemacht, das steht fest. Aber noch kommt der Bezirk nicht ganz weg vom »Geht-nicht«-Mantra der alten Jahre. Ein Quäntchen mehr Mut würde Bürgermeister Hikel gut tun. Und Vertrauen, dass fahrrad- und fußgängerfreundliche Kieze mit weniger Autoverkehr am Ende die Mehrheit der Menschen überzeugen. Hikel hat jetzt die Chance, Neukölln zum Vorreiter zu machen – und vielleicht sitze ich irgendwann ganz entspannt an der Sonnenallee im Café. Ich schaue dann auf einen breiten Radweg, atme saubere Luft, mein Puls ist ruhig und ich trinke endlich mal wieder einen Espresso.

https://berlin.adfc.de/artikel/die-ultimative-pruefung-1

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